Gewalt gegen Kinder ist ein massiver Risikofaktor für deren gesundheitliche Entwicklung. Deutlich wird immer wieder, dass eine nicht zu vernachlässigende Zahl von Kindern bereits in frühen Jahren Gewalt ausgesetzt ist. Kinder können in verschiedenen Kontexten Opfer von Gewalt werden: in der Schule, im Sportverein, unter Gleichaltrigen. Überwiegend aber findet Gewalt gegen Kinder in der Familie statt. So lebte mehr als die Hälfte der Frauen zur Zeit der Gewaltausübung mit Kindern zusammen (Schröttle, Müller, Glanmeier, 2004), auch erleben in 30-60% der Fälle Elternteil und Kind Gewalt (DHHS, 2003). Negative Folgen auf die spätere Stressanfälligkeit Kinder und Jugendlicher sind selbst bei Gewalt in der Schwangerschaft festzustellen (Radtke 2011).
In der medizinischen Erstversorgung nach Gewalt in der Familie sind Kinderärzte wichtige Initiatoren im Hilfeprozess für Betroffene. An dieser Schlüsselstelle ist das Wissen um die Kennzeichen, die Notfallbegleitung bei Kindesmisshandlung und um die Möglichkeiten der Kooperation mit anderen Einrichtungen und Professionen unabdingbar. Mit dem Umgang bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung (körperlicher Gewalt, Vernachlässigung oder Sexueller Missbrauch) stoßen Kinderärzte in ihrem Praxisalltag jedoch oft an die Grenzen ihrer Möglichkeiten. Rechtliche Aspekte wie Schweigepflicht und Datenschutz können in vielen Fällen eine Hürde für das Handeln bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung sein. Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdung zu erkennen erfordert genügend Zeit und Wissen um Kooperationspartner. Eigene Befragungen aus dem Vorgängerprojekt zum Thema Häusliche Gewalt konnten zeigen, dass Kinderärzte Zeitmangel in ihrem Alltag als Hauptproblem einschätzen. Sie berichteten außerdem von einer geringen Zufriedenheit mit ihren Möglichkeiten als Helfer (Epple, F., Croy, I., Schellong, J., 2011).
Kinderärzte sehen sich aber durchaus nicht nur als Experten für das Erkennen von Anzeichen einer Kindeswohlgefährdung im Sinne von Misshandlungs- oder Vernachlässigungsspuren. Sie erkennen es als eine ihrer Aufgaben an, Eltern frühzeitig im Sinne einer Gesundheitsberatung zu unterstützen und sie gegebenenfalls zur Annahme von Hilfe zu motivieren (Hofmann & Siegert et al., 2009).
Eine interdisziplinäre Absprache, die die Beteiligung der Professionen aus unterschiedlichen Bereichen notwendig macht, ist eine unabdingbare Voraussetzung für den Kinderschutz. Aus diesen Überlegungen entstand das Projekt, das zum Ziel hatte, das Vorgehen bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung im Universitätsklinikum Carl Gustav Carus Dresden zu strukturieren und zu evaluieren und die Zusammenarbeit zwischen Jugendamt und Medizinsystem und die Versorgung der von Gewalt betroffenen Kinder zu verbessern.
Aus den Erfahrungen mit dem Modellprojekt „Hinsehen-Erkennen-Handeln. Aktive Hilfen im Gesundheitswesen“, welches auf die Sensibilisierung von medizinischen Fachkräften zum Thema häusliche Gewalt (also Partnerschaftsgewalt) abzielte, und dem hier beschriebenen Projekt zeitlich voranging, ergaben sich zwei wichtige Schlussfolgerungen: Pädiatrisch tätige Fachkräfte sind bereits relativ gut informiert, was mögliche Hinweise auf Gewalt in der Familie und Handlungsmöglichkeiten betrifft. Dennoch wünschen Sie sich dringend weitere Fortbildungen vor allem zu Themen wie Gesprächsführung mit Eltern und konkrete Hilfsmöglichkeiten für den medizinischen Alltag. Die Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfesystem und medizinischem System ist teilweise immer noch von gegenseitigen Vorbehalten geprägt. Oft ist nicht ganz klar, welche Möglichkeiten und Grenzen die Arbeit der jeweils anderen Profession bestimmen. Folgerichtig wurde das Modellprojekt „Hinsehen-Erkennen-Handeln. Kinderschutz im Gesundheitswesen“ entwickelt, in dem beispielhaft für die Stadt Dresden in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt der Stadt Dresden und dem Kinder- und Jugendärztlichen Dienst Fortbildungen für Mediziner angeboten werden, in denen die Aufgaben und Möglichkeiten des Jugendamtes und des Gesundheitsamtes für den Kinderschutz dargestellt werden. Zudem werden Materialien zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen medizinischem und Jugendhilfesystem entwickelt, gemeinsam Wege erdacht, die Zusammenarbeit transparenter zu machen (beispielsweise über Rückmeldungen zu den Verdachtsfällen) und die Arbeit der Mediziner zu erleichtern indem ein Austausch stattfindet, welche Bedarfe bei den jeweiligen Projektpartnern gesehen werden, um den Kinderschutz zu verbessern.
Laufzeit: 1.1.2011-31.12.2011
Projekttbeteiligte:
- Jugendamt der Stadt Dresden
- Kinder- und Jugendärztlicher Dienst des Gesundheitsamtes der Stadt Dresden
- Universitätsklinikum Dresden mit den Kliniken: Psychosomatische Klinik, Kinderklinik, Kinderchirurgie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Gynäkologie, Institut für Radiologische Diagnostik, Institut für Rechtsmedizin der TU Dresden,
- Krankenhaus Dresden Neustadt: Kinderklinik
- Deutscher Kinderschutzbund, Landesverband Sachsen
Die Notwendigkeit eines verstärkten und effektiveren Kinderschutzes ist von politischer Seite seit einigen Jahren erkannt und vielseitige Ansätze entwickelt worden. Allen klinisch tätigen Ärzten ist der Bedarf zur besonderen Beschäftigung mit dem Thema Kinderschutz deutlich. Die aus der Deutschen Akademie für Kinder und Jugendmedizin 2008 hervorgegangene Arbeitsgemeinschaft Kinderschutz in der Medizin (AG KiM) entwickelte verbindliche Leitlinien für diesen Bereich und empfiehlt dringend die Etablierung einer multiprofessionellen Kinderschutzgruppe an allen Institutionen, die im medizinischen Sektor mit Kindern zu tun haben.
Das durch die Sächsische Landesregierung erarbeitete Sächsische Handlungskonzept für präventiven Kinderschutz beinhaltet verschiedene Maßnahmen, „um das gelingende Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen zu sichern, deren Teilhabe zu stärken und Kindeswohlgefährdungen möglichst bereits im Ansatz zu vermeiden“. Auch hier wird auf die Wichtigkeit vernetzten interdisziplinären Arbeitens hingewiesen. Es enthält den Punkt der „Qualifizierung der Netzwerkpartner in den verschiedenen Bereichen der Handlungskette“ und nennt explizit die Fortbildung medizinischen Personals als wesentlichen Aspekt. Auch das neue Bundeskinderschutzgesetz (KKG), Artikel 1 (seit 01.01.2012 in Kraft getreten) verweist auf Kooperation und Information und Qualitätssicherung im Kinderschutz.
Die derzeitigen Strukturen in den Kinder betreuenden Einrichtungen in Sachsen werden diesem Anspruch noch nicht gerecht. Eine Qualitätssicherung im Kinderschutz ist nicht gegeben. Wissenschaftlich fundierte Wirksamkeitsstudien von Schulungs- und Implementierungsmaßnahmen fehlen ebenso wie validierte Bewertungsinstrumente.
Auch die Zusammenarbeit zwischen Beratungssystem und medizinischem System muss noch immer als verbesserungswürdig bezeichnet werden. Zum Einen sind die gesetzlichen Gegebenheiten für die verschiedenen Berufsgruppen unterschiedlich, zum Anderen bestehen recht verschiedene berufliche Alltagsbedingungen. Zudem sind die psychischen Folgen von Gewalteinwirkung vielen Fachkräften noch nicht ausreichend präsent. Es scheint bundesweit nur ein geringer Teil der Kinder, die unter akuten Gewaltfolgen oder psychischen Traumafolgestörungen leiden, eine angemessene Behandlung zu erhalten (Steil u. Straube 2002).